In unserem täglichen Leben begegne ich ständig Situationen, in denen ich interpretiere, projiziere, annehme oder unterstelle, was in anderen Menschen vorgeht. Ich stelle mir vor, was andere denken oder fühlen, basierend auf meine eigene Vorstellungskraft und meiner eigenen Geschichte.
Das kann dazu führen, dass ich mich in Illusionsschleifen verfange und mich von meiner eigenen Vorstellungskraft täuschen lassen. Ich nehme an, dass ich die Wahrheit über die Motivationen und Handlungen anderer kennen, obwohl ich sie in Wirklichkeit nicht kennen kann. Nie kennen werde.
Doch – wie kann ich vermeiden, in diesen Illusionsschleifen gefangen zu bleiben?
Eine Möglichkeit ist es, aufmerksam zuzuhören und meine eigenen Interpretationen und Projektionen, die-gerade-darauf-laufen, zu hinterfragen.
Ich mache mir bewusst, dass meine Wahrnehmung und Interpretation der „Wirklichkeit“ nicht die einzige-und-wahre Option ist: „Verliebe Dich in Deine Theorie aber heirate sie nicht.“
Durch Nachfragen und Zusammenfassen des Gehörten kann ich mir die Aussagen, ihre Bedeutungen meines Gesprächspartners besser erschließen und seine Perspektive verstehen.
Ich übe hier täglich, ohne Bewertung und Analyse zuzuhören und Raum für verschiedene Sichtweisen zu schaffen (was mir mal besser, mal weniger gelingt…).
Geschichten können uns dabei helfen, unsere Vorstellungskraft zu erweitern und uns zu sensibilisieren für die Vielfalt von Perspektiven. Sie laden uns ein, das Leben und seine Ziele aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten und helfen uns dabei, uns selbst und andere besser zu verstehen.
In der Arbeit mit Menschen sind Geschichten für mich ein wertvolles Instrument, um Empathie und Verständnis zu fördern. Sie können unterstützen, helfen, uns auf andere Menschen einzulassen und unsere eigenen Vorurteile und Vorstellungen zu hinterfragen.
Ich lade Sie ein, inne-zu-halten, zu-zu-hören und sich von Geschichten inspirieren zu lassen, um sich selbst und unsere Mitmenschen besser zu verstehen und ein erfüllteres Leben zu führen…
Der Wandel der Dinge
Ein junger Student des Zen war auf dem Weg zum Markt, um Gemüse für sein Kloster zu kaufen. Auf dem Weg begegnete er einem Studenten eines anderen Klosters der Umgebung, den er vom Sehen kannte.
„Wohin gehst du?“, fragte er den anderen Studenten.
„Wohin meine Beine mich führen“, entgegnete dieser unbekümmert.
Unser Student brütete über die Antwort, die er bekommen hatte. Sicherlich hatte es eine tiefere Bewandtnis mit dieser Aussage. Zurück im Kloster erzählte er seinem Meister von dem Treffen, der ihm daraufhin riet: „Du hättest ihn fragen sollen, was er tun würde, wenn er keine Beine hätte.“
Am nächsten Tag begegnete der Student dem anderen jungen Mann erneut. „Wohin gehst du?“, fragte er ihn und ergänzte dann ohne eine Antwort abzuwarten „Oh, ich weiß. Wohin deine Beine dich führen, nehme ich an.“
„Nein!“, kam die unerwartete Antwort. „Heute folge ich dem Wind.“ Diese Antwort brachte den Studenten wieder aus dem Konzept. Zurück im Kloster berichtete er seinem Meister von dem Vorfall.
„Du hättest ihn fragen sollen, was er tun würde, wenn kein Wind wehen würde“, riet der alte Meister.
Wie es der Zufall wollte, geschah es, dass der Student dem anderen am folgenden Tag erneut in der Nähe des Marktes begegnete.
„Sag mir, was der heute vorhast! Ich nehme an du gehst, wohin deine Beine dich tragen oder wohin der Wind weht. Aber was, wenn…“
„Nichts von dem“, entgegnete der junge Mann mit einem schelmischen Grinsen. „Heute bin ich hier, um Gemüse zu kaufen.“
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